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Orphan Drugs – Es bleibt weiterhin viel zu tun!

Foto: Matej Kastelic via Shutterstock

Die pharmazeutische Industrie arbeitet ständig und unter Hochdruck an der Entwicklung von Therapiemöglichkeiten für Menschen, die von einer Seltenen Erkrankung betroffen sind. Derzeit gibt es ca. 200 Arzneimittel zur Behandlung eines Seltenen Leidens (Orphan Drug). Da etwa 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen bekannt sind, ist der therapeutische Bedarf aber nach wie vor groß. Warum die Entwicklung solcher Orphan Drugs die Pharmaunternehmen vor besondere Herausforderungen stellt, erklärt uns Dr. Matthias Wilken vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) e. V..

Dr. Matthias Wilken

Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V.
Geschäftsführer Market Access, Märkte und Versorgung

Herr Dr. Wilken, in den letzten Jahren ist ein erfreulicher Trend zu beobachten: es werden immer mehr Arzneimittel zugelassen, die gegen seltene Erkrankungen eingesetzt werden können. Bis ein solches Orphan Drug zugelassen wird, vergehen oft viele Jahre: Welche Herausforderungen gibt es hier für die pharmazeutische Industrie?

Orphan Drugs sind ganz besondere Medikamente. Da im Vergleich zu häufigen Erkrankungen nur sehr wenige Patientinnen und Patienten diese speziellen Arzneimittel brauchen, entwickelt die pharmazeutische Industrie Orphan Drugs unter ganz besonderen Bedingungen. Zum Beispiel sind große Studienprogramme angesichts der geringen Patientenzahlen gar nicht möglich. Die Rekrutierung von Probanden ist daher oft sehr schwierig und kostenintensiv – das Investitionsrisiko für pharmazeutische Unternehmen ist sehr hoch. Entscheidet sich ein Unternehmer dazu, Therapieansätze für eine Seltene Erkrankung zu erforschen, sucht er nach der Stecknadel im Heuhaufen.

Ist ein solches Arzneimittel schließlich zugelassen, sind die Kosten für solche Medikamente meist recht hoch. Warum ist das so?

Die Entwicklung eines Orphan Drugs ist sehr aufwändig. Sie kann bis zu 15 Jahre dauern und mehrere Hundert Millionen bis Milliarden Euro kosten. Ein pharmazeutisches Unternehmen muss diese Kosten also refinanzieren. Da der Absatzmarkt durch die kleinen Patientenpopulationen aber stark begrenzt ist, ergeben sich auch höhere Preise.

Wie sieht das Engagement des BPI e.V. rund um das Thema „Seltene Erkrankungen“ und Entwicklung von Orphan Drugs konkret aus?

Als Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie engagieren wir uns seit Jahren für verbesserte Diagnose- und Therapieoptionen. Beispielsweise machen wir uns im Rahmen des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) stark. Im Zusammenschluss mit Bundesministerien und über 20 Bündnispartnern – ausschließlich Spitzen- und Dachverbände der wesentlichen Akteure im Gesundheitswesen auf dem Gebiet der Seltenen Erkrankungen – setzen wir uns dafür ein, dass alle Patientinnen und Patienten eine Chance auf eine zeitnahe Diagnose und Therapie ihrer seltenen Erkrankung erhalten. Vor kurzem haben wir als BPI noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass es auch auf europäischer Ebene keine Einschnitte im Anreizsystem zur Entwicklung von Orphan Drugs geben darf. Zum Tag der Seltenen Erkrankungen haben wir mit Blick auf die aktuelle Überarbeitung der EU-Arzneimittelgesetzgebung durch die Europäische Kommission verdeutlicht, dass Orphan Drugs auch weiterhin in vollem Umfang von der Politik gefördert werden müssen. Denn es bleibt weiterhin viel zu tun!

Was muss aus Ihrer Sicht gesundheitspolitisch passieren, damit zukünftig immer mehr Menschen mit einer seltenen Erkrankung die Chance haben, behandelt zu werden?

Wichtig ist, dass der Arzneimittelmarkt politisch so aufgestellt bleibt, dass pharmazeutische Unternehmen weiterhin Therapien für nur wenige Patientinnen und Patienten entwickeln können. Denn diese haben das gleiche Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung wie Menschen mit häufigen Erkrankungen.

Welche Forderungen stellen Sie konkret an die Politik?

Für den deutschen Arzneimittelmarkt hat der Deutsche Bundestag vor kurzem das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beschlossen. Die darin enthaltenen Maßnahmen hebeln die bisher gute Förderung von Orphan Drugs in Deutschland aus. Hier bedarf es dringender Anpassungen. Als BPI machen wir uns daher für eine geeignete Gesetzgebung sowohl in Deutschland als auch in Europa stark. Denn in keinem anderen europäischen Land stehen den Patientinnen und Patienten neue Therapien so schnell und umfassend zur Verfügung wie in Deutschland. In den letzten 10 Jahren kamen gefördert durch die europäische Orphan-Drug-Verordnung durchschnittlich 13 neue Orphan Drugs pro Jahr auf den Markt – ein guter Wert! Umso wichtiger ist es, dass auch die zukünftige EU-Arzneimittelgesetzgebung an den bewährten Förderinstrumenten festhält.

Die Forschung der pharmazeutischen Industrie an seltenen Krankheitsbildern hat durchaus auch einen Nutzen für Menschen mit häufigeren Erkrankungen. Können Sie uns dazu etwas mehr sagen?

Wenn wir das Krankheitsgeschehen einer Seltenen Erkrankung verstehen, können wir die gewonnenen Erkenntnisse auch auf anderweitige Krankheitsbilder übertragen. Je mehr Faktoren uns also beim Ablauf eines Krankheitsprozesses bekannt sind, umso eher können pharmazeutische Unternehmen präzise Therapien entwickeln. Die Forschung an Seltenen Erkrankungen ist also auch „das Labor“ für häufige Erkrankungen. So profitieren mittelbar auch Menschen, die an häufigen Erkrankungen leiden.

Sie wollen mehr über die Arbeit des BPI e. V. erfahren?

Weiterführende Informationen finden Sie in der BPI-Themenwelt Orphan Drugs, im BPI-Themendienst Orphan Drugs sowie in den BPI-AMNOG-Daten 2022.

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