Das Cushing-Syndrom gehört zu den seltenen endokrinologischen Erkrankungen und wird im Schnitt erst drei Jahre nach Auftreten der ersten Symptome diagnostiziert. Warum die Diagnose oft verzögert stattfindet und weshalb eine schnellere Diagnose entscheidend für die Lebensqualität der Betroffenen ist, erklärt der Experte Prof. Martin Reincke im Interview.
Prof. Dr. Martin Reincke
Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik IV am Klinikum der Universität München
Das Cushing-Syndrom ist eine sehr seltene, schwerwiegende Erkrankung. Die Symptome sind aber nicht ganz einfach zu deuten. Wie macht sich die Erkrankung bemerkbar?
Die Herausforderung beim Cushing-Syndrom ist, dass es auf der einen Seite häufig fälschlicherweise vermutet wird, auf der anderen Seite aber oft viel zu spät diagnostiziert wird, wenn es tatsächlich vorliegt. Dieses Paradox ist typisch für seltene Erkrankungen. Beim Cushing-Syndrom ist die Erklärung, dass es nicht das eine Leitsymptom gibt, sondern gleich ein ganzes Bündel an mehr oder weniger charakteristischen Symptomen, die sich aber auch bei ganz anderen Erkrankungen finden. Dies sind zum Beispiel Gewichtszunahme, Übergewicht, das metabolische Syndrom, aber auch Osteoporose und Bluthochdruck. Daher wird es häufig vermutet, obwohl die Betroffenen gar kein Cushing-Syndrom haben. Für Personen, die tatsächlich vom Cushing-Syndrom betroffen sind, ist gerade die Kombination einer Reihe solcher Symptome das Typische.
Weiterhin charakteristisch für die Erkrankung ist ein schrittweises, progressives Auftreten der Symptome nacheinander: Zu Beginn haben Betroffene nur zwei bis drei Symptome, nach und nach kommen aber mehr dazu, bis dann das Vollbild vorliegt. Betroffene laufen also erst einmal von einem Facharzt zum nächsten, ohne dass die Diagnose gestellt wird. Das macht es so schwer, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren.
Unsere aktualisierte Diagnostikempfehlung ist, speziell auf atypische Symptome zu achten: Wenn eine junge Frau eine arterielle Hypertonie oder spontane (osteoporotische) Frakturen entwickelt oder ein Kind aufhört zu wachsen und gleichzeitig Gewicht zunimmt, sind das deutliche Warnsignale. Auch das Hautbild spielt eine wesentliche Rolle, denn jeder Cushing-Patient hat Hautveränderungen. Wenn man diese Dinge beachtet, liegt man als Arzt häufig richtig. Manchmal führt auch ein Arztwechsel zur Diagnose: Ein frischer, unvoreingenommener Blick auf den Cushing-Patienten führt durchaus zur Diagnose.
Was können Ihrer Meinung nach speziell Hausärzte zu einer schnelleren Diagnosefindung beitragen, damit bei Betroffenen eine Therapie begonnen werden kann?
Für Allgemeinärzte ist die Diagnose eines Cushing-Syndroms eine echte Herausforderung. Denn es gibt so viele seltene Erkrankungen, an die zu denken ist, dass es fast unmöglich erscheint, direkt die richtige Vermutung zu haben. Aber den wachen Blick zu behalten und Mustererkennung zu betreiben, ist ein wichtiger Faktor ärztlicher Tätigkeit, was man auch durchaus trainieren kann. Sozusagen eine gesunde diagnostische Skepsis, wenn bei einem Patienten die Befunde widersprüchlich erscheinen und nicht aufgehen, ist von zentraler Bedeutung. Denn das Cushing-Syndrom kennt theoretisch jeder Arzt; das Problem ist, dass es oft nicht erkannt wird. Bei entsprechendem Verdacht kann die Erkrankung durch biochemische Tests schnell und eindeutig diagnostiziert werden.
Können Betroffene mit einer entsprechenden Therapie ein normales Leben führen?
Die Standardtherapie des Cushing-Syndroms ist, wenn immer möglich, eine chirurgische. Dies ist entweder die transnasale Entfernung einer kleinen, gutartigen Geschwulst der Hirnanhangsdrüse oder die minimalinvasive Operation eines Cortisol-bildenden Nebennierenadenoms. Selten kann ein neuroendokriner Tumor der Lunge oder des Pankreas vorliegen, auch er wird chirurgisch reseziert. Und damit ist das Cushing-Syndrom heilbar und dauerhaft in Remission zu bringen. Bei den Hypophysenadenomen kann liegt die Heilungsquote allerdings nur 70 bis 90 Prozent, und auch nach initialer Heilung kann es im Verlauf zu Rezidiven kommen. Wenn die chirurgische Therapie nicht erfolgreich ist, sollte medikamentös dafür gesorgt werden, dass der Kortisolspiegel der betroffenen Patienten in den Normbereich abgesenkt wird. Hierfür stehen mehrere Medikamente zur Verfügung. Unter richtiger Dosierung kann hiermit eine Rückbildung der Symptome und Beschwerdefreiheit erreicht werden.
Was wünschen Sie sich für die Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen wie dem Cushing-Syndrom?
Zuallererst die frühere Diagnose, denn wir wissen durch unsere Studien genau, dass die durchschnittliche Dauer bis zur Diagnose nach wie vor drei Jahre beträgt. Das ist ein Paradox: Wir haben immer ausgewiesenere Verfahren zum Nachweis der Erkrankung, aber wie im Jahr 1960 dauert es drei Jahre, bis die Erkrankung erkannt wird. Das haben wir international in einer Studie mit 5.000 Patienten nachweisen können.
Eine Erklärung dafür könnte sein, dass wir seit den 80er-Jahren eine extreme Zunahme der Adipositas verzeichnen, die eines der Kernsymptome des Cushing-Syndroms ist. Heutzutage ist aber die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig, was das Erkennen des Cushing-Syndroms natürlich schwieriger macht. Auch haben sehr viele Menschen mit Adipositas ein runderes Gesicht, was ebenfalls ein Symptom des Cushing-Syndrom ist (Mondgesicht). Auch die Ansammlung des Körperfettes in der Körpermitte ist kein seltenes Merkmal mehr. Dadurch ist eine Abgrenzung des Cushings zunehmend erschwert.
Ein zweiter Wunsch ist die raschere und gezieltere Abklärung von Cushing-Patienten in endokrinologischen Spezialambulanzen und die Durchführung der richtigen Therapie seitens der behandelnden Ärzte. Denn wir wissen, dass es auch bei einem Patienten, bei dem der Verdacht auf ein Cushing-Syndrom naheliegt, Monate dauert, bis die Diagnose sattelfest ist. Es wird erfahrungsgemäß leider einfach zu viel Zeit vertrödelt mit wiederholten Tests. Sobald der Hausarzt ein Cushing-Syndrom vermutet, rate ich direkt zur Überweisung zum Endokrinologen.