Myeloproliferative Neoplasien (MPN) sind eine Gruppe von seltenen Erkrankungen des Knochenmarkes. Charakteristisch für diese Krankheitsbilder ist eine gesteigerte Produktion von Blutzellen, was sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern kann. Diese Beschwerden können die Lebensqualität Betroffener enorm einschränken. Wir sprachen mit Frau Prof. Dr. med. Haifa Kathrin Al-Ali über die Symptome und Behandlungsmöglichkeiten der Polycythaemia Vera (PV), die zu den MPN zählt.
Viele Patienten durchlaufen einen langen Leidensweg, bis die Krankheit korrekt diagnostiziert wird.

Prof. Dr. Haifa Kathrin Al-Ali
Direktorin des Krukenberg-Krebszentrums Halle, Universitätsmedizin Halle, Fachärztin für Innere Medizin, Hämatologie, Onkologie
Foto: Universitätsmedizin Halle
Frau Prof. Al-Ali, die PV ist eine seltene Erkrankung, die sich durch oft unspezifische Symptome bemerkbar macht. Wie sehen diese aus und wie kann man der Erkrankung auf die Spur kommen?
Die Beschwerden der PV sind sehr unspezifisch. Das Hauptsymptom ist eine bleierne Müdigkeit (sog. Fatigue). Aber wenn wir ehrlich sind, sind wir natürlich alle mal erschöpft, allerdings nicht dauerhaft. Kommen weitere, spezifische Symptome wie z. B. ein Kribbeln in Händen und Füßen oder ein Juckreiz ohne Hautausschlag hinzu, dann sollte man hellhörig werden. Der Juckreiz ist besonders nach Kontakt mit Wasser sehr ausgeprägt und kann Betroffene schier in den Wahnsinn treiben, manche berichten gar über Suizidgedanken. Viele Patienten durchlaufen einen langen Leidensweg, bis die Krankheit korrekt diagnostiziert wird. Manche kämpfen jahrzehntelang mit den Symptomen.
Was die Diagnose zusätzlich erschwert, ist, dass Betroffene aufgrund der erhöhten Anzahl der roten Blutkörperchen im Körper äußerlich gesund und geradezu rosig aussehen, sich aber sehr schlecht fühlen. Dies hat Auswirkungen auf die psychische Verfassung, da viele von ihnen im persönlichen und beruflichen Umfeld nicht ernst genommen werden. Das Blutbild kann bereits einen ersten Hinweis geben: Erhöhte Werte von Hämoglobin und Hämatokrit sind dabei ein deutlicher Hinweis. Eine PCR-Analyse des Blutes kann zusätzlich die JAK2-Mutation nachweisen, die die Diagnose PV bekräftigt und eine Untersuchung des Knochenmarks rundet das diagnostische Vorgehen ab. Es ist aber auch möglich, dass eine MPN ohne auffällige Blutwerte vorliegt. Insbesondere bei jungen Menschen können plötzliche und ungewöhnliche Thrombosen auf eine vorhandene JAK2- Mutation hinweisen, die bei nahezu allen PV-Patienten vorliegt. Es können Jahre zwischen den Thrombosen und den PV-typischen Blutbildveränderungen liegen.
Ist die Diagnose PV gestellt, dann gibt es verschiedene Behandlungsansätze. Wie sehen diese aus?
Bei jungen Betroffenen mit niedrigem Risiko für Thrombosen reicht ein Aderlass von Zeit zu Zeit und eine Behandlung mit Medikamenten zur Primärprophylaxe von Thrombosen meist aus.
Ist ein Patient über 60 Jahre alt oder hatte bereits eine oder mehrere Thrombosen, dann sprechen wir von einem Hochrisikopatienten für weitere Thrombosen. Dann kommt die sogenannte Zytoreduktion zum Einsatz, die darauf abzielt, die übermäßige Produktion von Blutzellen im Knochenmark zu reduzieren.
Eine wichtige Rolle bei der passenden Behandlung spielt also die Information, ob eine Hochrisiko-PV vorliegt. Wie sollten solche Hochrisiko-Patienten versorgt werden?
Dazu muss man sich erst noch einmal anschauen, was wir unter einem Hochrisikopatienten verstehen. Der Patient ist jung und hatte noch keine Thrombose? Somit gilt er als Niedrigrisikopatient. Der Patient hatte bereits eine oder mehrere Thrombosen oder/und ist über 60 Jahre alt? Damit wird er als Hochrisikopatient eingestuft. Diese Klassifizierung bezieht aber die weiteren Beschwerden wie z. B. den starken Juckreiz, Konzentrationsprobleme, Fatigue nicht mit ein, was hochproblematisch ist. Deswegen sollte man besonders bei den jüngeren Patienten ganz stark darauf achten, wie die Lebensqualität aussieht und eine Therapieentscheidung auch davon abhängig machen. Zudem sollten auch weitere Faktoren wie erhöhte Cholesterinwerte oder kardiovaskuläre Risiken mit einbezogen werden.
Wie sieht die derzeitige Versorgungsrealität aus: Werden Hochrisiko-Patienten heute auch entsprechend versorgt? Welche Auswirkungen kann es auf die Krankheitsentwicklung haben, wenn die Behandlung zu spät oder gar nicht dahingehend angepasst wird?
Leider nein. Laut aktuellen Daten bekommen 40% der Hochrisikopatienten gar keine Zytoreduktion. Das ist schon bitter.
Die Auswirkungen dieser bitteren Versorgungsrealität bekommen in erster Linie die Patienten zu spüren, deren Lebensqualität extrem leidet. Und bei einer lebenslangen chronischen Erkrankung wie der PV sollte die Lebensqualität der Betroffenen, neben dem Alter und dem Thromboserisiko, auch ein ausschlaggebendes Kriterium bei der Therapieentscheidung sein.
Welche Auswirkungen kann es wiederum auf die Lebensqualität Betroffener haben, wenn diese Faktoren berücksichtig werden und sie eine angepasste Therapie erhalten?
Sie können in der Regel ein normales Leben führen, das nicht durch die Symptomlast bestimmt wird. Sie können zuversichtlich in die Zukunft blicken, was einen ungemeinen Zugewinn an Lebensqualität bedeutet. Außerdem gibt es Hinweise, dass Komplikationen wie Folgeerkrankungen oder Knochenvernarbungen seltener auftreten. Zudem wird das Risiko für thrombotische Ereignisse gesenkt. Diese Aspekte müssen bei behandelnden Ärzten unbedingt in den Fokus rücken.
Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach der Austausch mit anderen Betroffenen, etwa in Selbsthilfegruppen, und wie finden Patienten Zugang zu solchen Netzwerken? Welche Rolle spielen Patientenschulungen oder Workshops bei der Bewältigung der Erkrankung?
Der Austausch mit anderen Betroffenen ist von unschätzbarem Wert! Das Erste, was ein neuer Patient nach der Begrüßung von mir bekommt, ist ein Flyer des MPN-Netzwerkes. Denn ein informierter Patient, der sich mit anderen Betroffenen vernetzt, kann sich selbst am besten schützen und Einfluss auf seinen Krankheitsverlauf nehmen. Aber auch Ärzte müssen dranbleiben, sich informieren und weiterbilden.
Die Möglichkeiten dafür sind in Form von Patientenveranstaltungen und Weiterbildungen da, sie müssen aber genutzt werden.
PCR-Analyse
Die PCR-Analyse (Polymerase-Kettenreaktion) ist eine molekulargenetische Methode, die es ermöglicht, spezifische DNA-Sequenzen, wie die JAK2-Mutation, die bei fast allen PV-Patienten vorhanden ist, in einer Blutprobe nachzuweisen.
Thrombose
Unter einer Thrombose versteht man ein Blutgerinnsel, auch Thrombus genannt, welches ein Blutgefäß verengt oder ganz verschließt. Die erhöhte Blutdicke und die veränderte Funktion der Blutplättchen bei PV erhöhen das Risiko für die Bildung von solchen Blutgerinnseln.

Weitere Informationen finden Sie unter: