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Erbliche Netzhauterkrankungen

Foto: Standret via Shutterstock

Unter erblichen Netzhauterkrankungen werden eine Vielzahl seltener Augenkrankheiten zusammengefasst, bei denen die Funktion der Sinneszellen in der Netzhaut aufgrund genetischer Veränderungen gestört ist. Wie sie diagnostiziert wird und welche Behandlungsoptionen es gibt, erklärt Prof. Dr. med. Katarina Stingl von der Universitäts-Augenklinik Tübingen im Interview.

Prof. Dr. med. Katarina Stingl

Universitäts-Augenklinik Tübingen

Erblich bedingte Augenerkrankungen wie zum Beispiel die Lebersche kongenitale Amaurose machen sich bei Betroffenen meist bereits im frühen Kindesalter bemerkbar. Woran können Betroffene und Angehörige diese Erkrankungen erkennen?

Wir kennen sehr viele Subtypen der erblich bedingten Netzhauterkrankungen, wobei alle selten oder sehr selten sind. Je nachdem welche Zellart durch den Gendefekt primär betroffen ist, äußern sich die ersten Beschwerden. Sind zum Beispiel durch den Gendefekt primär die Stäbchen betroffen, ist das Sehen in der Dunkelheit beeinträchtigt bzw. es liegt eine Nachtblindheit vor. Das ist zum Beispiel bei der Retinitis pigmentosa der Fall. Sind aber primär die Zapfen betroffen, dann merkt man als Erstes eine schlechte Sehschärfe, Blendeempfindlichkeit oder Farbsinnstörungen oder – vor allem im Kindesalter – ein auffälliges Augenwackeln. Dies ist wiederum der Fall bei beispielsweise Zapfen- oder Zapfen-Stäbchen-Dystrophien oder Makuladegenerationen. 

Die Lebersche kongenitale Amaurose ist eine frühkindliche Form der Retinitis pigmentosa, bei der schon sehr früh sowohl Stäbchen als auch Zapfen betroffen sind. Meistens bemerken Eltern die Auffälligkeiten schon im ersten Jahr oder aber im Vorschulalter. Die Auffälligkeiten sind Augenwackeln, schlechte Sehschärfe, schlechtes Nachtsehen oder Blendeempfindlichkeit. Manche dieser Kinder werden auch schon blind geboren.

Wo liegt die Ursache für solche Erkrankungen, was passiert dabei in der Netzhaut Betroffener?  

Die Ursache liegt in der genetischen Information, es wird also vererbt. Dabei muss nicht zwingend ein weiterer Betroffener in der Familie sein. Es kommt aber öfters in Verwandtschaftsehen vor.

Wenn eine erbliche Netzhauterkrankung entsteht, sind in der Regel Gene betroffen, die notwendige Aufgaben für die Zapfen und Stäbchen codieren. Unsere Zapfen und Stäbchen sind Nervenzellen in der Netzhaut des Auges, die ständiger Aktivität ausgesetzt sind, da sie praktisch nonstop – den ganzen Tag und teilweise auch nachts – mit Licht gereizt werden. Wenn aufgrund der genetischen Mutationen zum Beispiel bestimmte Enzyme fehlen, entstehen Fehlfunktionen der Zellen und die Zapfen und/oder Stäbchen sterben ab. Leider ist es so, dass der Untergang von Stäbchen immer nach Jahren zum Untergang von Zapfen führt. Diese Prozesse des Zellabsterbens schreiten über Jahre oder Jahrzehnte fort bis zur deutlichen
Sehbehinderung oder Erblindung. Obwohl für die meisten Betroffenen keine zugelassene Behandlungsmöglichkeit existiert, ist es wichtig, möglichst früh die korrekte Diagnose zu bestimmen, damit in den wenigen Fällen ggf. eine frühzeitige Reaktion möglich ist. Einmal abgestorbene Zellen können nicht wiederbelebt werden.

Mit welchen Herausforderungen sehen sich Ärzte bei der Diagnosefindung konfrontiert? 

Die erblich bedingten Erkrankungen der Netzhaut sind selten. Das bedeutet, dass die einzelnen, voneinander auch sehr unterschiedlichen Subtypen der genetischen Netzhauterkrankungen weniger oft als bei einem pro 5.000 Menschen in der Bevölkerung vorkommen. Manche, zum Beispiel syndromale Netzhauterkrankungen kommen nur in einem pro 100.000 Menschen vor, sodass sie bei allgemein praktizierenden Augenärzten verständlicherweise nicht ausreichend bekannt sind. In Spezialsprechstunden, wie zum Beispiel an der Universitäts-Augenklinik in Tübingen, bei der unter meiner Leitung täglich ausschließlich Patienten mit erblichen Netzhauterkrankungen betreut werden, gibt es spezifische Diagnostikmöglichkeiten der Netzhaut. Zudem sind sie an genetische Labore angebunden. Der Weg zu den Spezialzentren und zur Diagnose ist aber für viele Betroffene aufgrund der Seltenheit der Krankheiten lang.

Wie können solche Erkrankungen verlässlich diagnostiziert werden und welche Rolle spielt die genetische Diagnostik? 

Die Diagnostik kann verlässlich praktisch nur an spezialisierten Zentren gemacht werden, die genetische Diagnostik spielt eine sehr wichtige Rolle. Teilweise kann man dank der Erfahrung und wissenschaftlicher Kenntnisse auch über die individuelle Prognose besser beraten, wenn die genaue ursächliche Mutation bekannt ist.

Erbliche Netzhauterkrankungen gelten als unheilbar. Welche Hoffnungen können sich Betroffene dennoch machen? Welche Rolle spielt der Zeitpunkt der Diagnose hierbei?

Die erste und einzige zugelassene ursächliche Therapie für die frühkindliche Retinitis pigmentosa (Lebersche kongenitale Amaurose) gibt es in Europa seit Ende 2018. Diese Behandlung ist eine Gentherapie und kann bei Fällen zum Einsatz kommen, die durch spezifische Mutationen verursacht werden. Für viele weitere Gene oder spezifische Mutationen laufen weltweit klinische Tests, um weitere Therapiemöglichkeiten zu prüfen. Die Beratung hierzu kann auch in den Spezialsprechstunden durchgeführt werden.

Welche Empfehlungen haben Sie für Betroffene und Angehörige? Wo können diese Hilfe bekommen?

Die Betroffenen sollten an den spezialisierten Zentren vorstellig werden, in Deutschland gibt es diese in Tübingen, weiterhin in Bonn, München und Gießen. An diesen Zentren gibt es Informationen zu der aktuellen Therapieforschung und Beratung zum Alltag. Außerdem ist es sehr empfehlenswert, an die Patientenselbsthilfegruppen angebunden zu sein. Die PRO RETINA in Deutschland schließt Patienten mit Netzhautdegenerationen, vor allem erblichen Netzhauterkrankungen, ein.  

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