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Krankheitsbilder

“Für das Leben meines Sohnes”

Papa, hast du schon eine Medizin gefunden? Eine Frage, die Frank Husemann jahrelang von seinem Sohn hörte. Foto: Privat

Stellen Sie sich vor, Sie wünschen sich sehnlichst ein Kind, eine eigene Familie.

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Dr. Frank Husemann

Vorsitzender des Stiftungsrates der NCL-Stiftung

Es klappt, und mit Freude und Dankbarkeit über die Geburt und jeden einzelnen Tag beobachten Sie, wie Ihr Kind wächst, lernt und Stück für Stück mehr am Leben teilnimmt. Doch plötzlich entwickelt sich Ihr Kind nicht weiter. Die Geschichte von Tim und einem Wettlauf gegen die Zeit.

Tim ist ein fröhlicher, aufgeweckter Junge. Er hat viele Freunde, liebt es, mit seinem Papa Dr. Frank Husemann zu toben, und genießt eine unbeschwerte Kindheit. Mit sechs kommt er in die erste Klasse und beginnt, lesen und schreiben zu lernen.

Auf einer Autobahnfahrt stutzt sein Vater, als der Junge ihm bereits vertraute Buchstaben nicht erkennt. Aus einem P wird ein B. Ein Sehfehler? Braucht Tim eine Brille? Der Vater ging zum Augenarzt, der Vater und Sohn beruhigte – „Nichts zu finden“ – und wieder nach Hause schickte. Ein Irrtum. Die Sehkraft des Jungen verschlechterte sich – und leider nicht nur diese.

Alles, was die Krankheit meinem Sohn genommen hat, ist für immer verloren. Das kann auch keine Therapie wiederbringen.

Ein weiterer zurate gezogener Augenmediziner lieferte eine andere Diagnose: Retinitis pigmentosa. Bei dieser vererbten Augenerkrankung werden die Lichtsinneszellen der Netzhaut schleichend zerstört. Am Ende steht Erblindung. Als ob dies nicht genug Anlass zur Verzweiflung wäre.

Doch es kam weit schlimmer: Hinter den Augensymptomen stecke möglicherweise mehr, eventuell eine Stoffwechselstörung, hatte der Augenspezialist angedeutet und den kleinen Jungen vorsorglich an Professor Alfried Kohlschütter überwiesen, einen Experten für neurodegenerative Erkrankungen im Kindesalter am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf. Und dieser stellte die Diagnose Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL. Ein unheilbarer, sehr seltener und vererbter Stoffwechseldefekt, oftmals auch als Kinderdemenz bezeichnet.

Es gibt bisher 13 verschiedene NCL-Formen. Wenn man diese zusammen nimmt, leiden wahrscheinlich circa 700 Kinder in Deutschland an NCL. Ihnen allen fehlt ein wichtiges Strukturprotein, sodass Schadstoffe nicht aus den Nervenzellen abtransportiert werden können. Es kommt zur akuten Verschmutzung der Lysosomen, der körpereigenen Recycling-Center.

Anscheinend sind besonders die Nervenzellen der Netzhaut und des Gehirns hiervon betroffen. Sie sterben aufgrund des Defekts langsam ab, wovon zunächst Augen, dann Gehirn und schließlich alle Organe betroffen sind – am Ende auch die lebenserhaltenden.

Frank Husemann stellte dem Experten viele Fragen, unter anderem: Warum ist eine Heilung nicht möglich? Warum gibt es noch keine Therapie? Der Professor erklärt ihm, dass bislang nur wenige Wissenschaftler NCL erforschten, auch deshalb, weil in Deutschland nicht einmal ein Dutzend Kinder im Jahr erkrankten.

„Ich verstand das Problem, wollte das aber so nicht akzeptieren und beschloss, dem Rat des Mediziners zu folgen und zu versuchen, mehr Dynamik und Unterstützung in das Forschungsgebiet zu bringen. Die vielversprechendste Möglichkeit, gleichzeitig Geld für die Forschung zu sammeln, Anreize zu schaffen und Forscher sowie Ärzte untereinander zu vernetzen, sah ich in der Gründung einer auf diese Erkrankung konzentrierten Stiftung.“

Bereits einige Monate nach der Diagnosestellung, als Achtjähriger, war Tims Sehfähigkeit so stark beeinträchtigt, dass er auf eine Schule für Blinde und Sehbehinderte umgeschult werden musste. Als Zwölfjähriger beginnt ihm das Laufen schwerzufallen.

Tims Umgebung verändert sich immer mehr. NCL greift auch das Sprachzentrum an. Seine Aussprache wird undeutlicher, bisweilen muss er stottern. Tim zieht sich immer weiter in sich zurück.

Acht Jahre nach Ausbruch der Krankheit ist Tims Motorik so stark angegriffen, dass er immer wieder im Rollstuhl sitzen muss. Frank Husemann hatte bereits vor acht Jahren ein Liegetandem gekauft, in dem Tim vorn sitzt und mittreten kann, während sein Vater tritt und lenkt.

Dies geht – mit Einschränkungen – auch im Alter von 16 Jahren noch. Tim lacht dabei und hat spürbar Spaß, wenn sein Vater mit ihm auf Spritztour geht. Beide genießen diese gemeinsamen Momente. Doch Frank Husemann weiß auch, dass ihm die Zeit davonläuft.

Bereits ein Jahr nach Diagnosestellung gründete Dr. Frank Husemann die NCL-Stiftung. „Mithilfe von Round Table und weiteren Investoren sammelten wir das Startkapital.“ Kurze Zeit später stellte Husemann den ersten Mitarbeiter ein, einen Molekularbiologen, der sich die bekannten Fakten über die Krankheit aneignet und die nächsten Schritte für die Forschung ausarbeitet.

Die NCL-Stiftung ist Husemanns wichtigstes persönliches Projekt. Er reduziert seine Arbeitszeit im Büro auf 80 Prozent, um mehr Zeit für die Stiftung und seinen Sohn zu haben. „Papa, hast du schon eine Medizin gefunden?“, fragt der Junge immer wieder. Eine Frage, die dem Vater natürlich wehtut, denn man wird es nicht rechtzeitig schaffen – das weiß Frank Husemann bereits seit mehreren Jahren.

„Frühestens in fünf bis zehn Jahren könnte es so weit sein, dass ein Mittel gegen NCL gefunden wird und auf den Markt kommt. Und alles, was die Krankheit meinem Sohn genommen hat, ist für immer verloren. Das kann auch keine Therapie wiederbringen.“

Vor vielen Jahren schon zog Frank Husemann mit seinem Sohn in eine behindertengerechte Umgebung. Hier sind die Voraussetzungen gegeben, um eine Pflegesituation 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr abzubilden. Und das ist bitter nötig, denn Tim liegt heute überwiegend im Bett.

Er leidet unter epileptischen Anfällen, ist inkontinent und abhängig von mehreren Medikamenten. Oftmals kann Tim nur mit Sondennahrung ernährt werden. Tim ist zu 100 Prozent ein Pflegefall.

Heute weiß Dr. Frank Husemann, dass er selbst nur noch wenig für seinen Sohn tun kann, denn Tim hat den Wettlauf gegen die Zeit schon vor Jahren verloren. Selbst wenn Tim noch Jahre am Leben bliebe, wenn dank der Stiftung ein Wirkstoff gefunden würde, ist in seinem Gehirn bereits zu viel zerstört.

Die von der Stiftung geförderte Forschung wird Tim selbst nicht mehr helfen. Aber jeder noch so kleine Fortschritt bringt eine Therapie näher. Und damit entsteht Hoffnung für all diejenigen Kinder, die heute schon an NCL erkrankt sind oder in Zukunft daran erkranken werden.

Für sein außerordentliches Engagement wurde Dr. Frank Husemann im Oktober 2015 vom Bundespräsidenten persönlich das Bundesverdienstkreuz verliehen.

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