Nicht-dystrophe Myotonien (kurz NDM) sind seltene, genetisch bedingte neuromuskuläre Erkrankungen. Das charakteristische Merkmal: Betroffene sind aufgrund der Krankheit nicht fähig, die der körperlichen Bewegung dienenden Muskeln (Skelettmuskulatur) nach der Anspannung sofort wieder zu entspannen. Susanne ist eine von ihnen und gab uns im Gespräch Einblicke in ihren Alltag mit der Erkrankung.
Jede Treppe war ein Problem für mich, ich kam die Stufen einfach nicht hoch und runter, weil meine Muskeln blockierten.
Susanne, Sie leben mit der seltenen Erkrankung Myotonia congenita Thomsen, die zu den NDM zählt. Wann haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Rückblickend hatte ich schon in der Kindheit Symptome. Sport war für mich immer der Horror, weil ich mich nicht so bewegen konnte wie die anderen, ich wurde aber einfach als unsportlich abgetan. Mit Anfang 20 fing ich an, in der Firma meines damaligen Mannes zu arbeiten. Da das eine körperlich harte Tätigkeit war, schob man von da an meine Beschwerden auf den Arbeitsstress. Ich bekam ein Reizdarmsyndrom, das mich sehr belastete, zudem kamen immer stärkere Schmerzen vor allem im Bereich des Nackens, Rückens und Kiefers dazu. Mir war häufig schwindelig, ich bekam einen Tinnitus. Heute weiß ich, dass all das von der ständigen Verkrampfung meiner Muskeln durch die NDM kam, aber damals wurde das als orthopädisches Problem gesehen. Jede Treppe war ein Problem für mich, ich kam die Stufen einfach nicht hoch und runter, weil meine Muskeln blockierten.
Die Orthopäden sagten, ich müsse mehr Sport treiben und an meiner Kondition arbeiten. Über Jahrzehnte wurde ich nicht ernst genommen und lief von Arzt zu Arzt, lebte mit Dauerschmerzen. Mit Mitte 30 kam die Fatigue hinzu. Mit Mitte 40 bekam ich Orthesen, um die Sprunggelenke zu schonen, die schon seit 20 Jahren chronisch entzündet waren: das schränkte mich in der Beweglichkeit noch weiter ein. Es wurden verschiedene Schmerzmedikamente ausprobiert, nichts half. Irgendwann wurde ich in die psychosomatische Schublade gesteckt. Da wir selbstständig waren, konnte ich aber nie pausieren, ich powerte weiter durch.
Wie sah Ihr Weg bis zur richtigen Diagnose aus und gibt es in Ihrer Familie weitere Betroffene? NDM sind ja erblich bedingt.
Erst nachdem es eine NDM-Diagnose in meiner Familie gab, wurde ich mit einem Gentest daraufhin untersucht. Mitte 2022 hatte ich das Ergebnis: Ich habe Myotonia congenita Thomsen. Da war ich 54 Jahre alt. Alle anderen Ärzte, bei denen ich bis dahin war, haben die Symptome nicht in Verbindung gebracht und zusammenhängend betrachtet.
Was waren für Sie die größten Herausforderungen im Alltag und war es für Sie wichtig, sich selbst mit der Erkrankung auseinanderzusetzen?
Die größte Herausforderung für mich war, meiner Familie gerecht zu werden. Mit 34 bekam ich meinen Sohn: Ich hatte also die Doppelbelastung Arbeit und Haushalt, war dabei ständig erschöpft und hatte chronische Schmerzen. Das machte auch mental etwas mit mir.
Ich bin abends oft beim Geschichte vorlesen eingeschlafen, weil ich so müde war. Viele Dinge konnte ich nicht mit ihm unternehmen, und es tut mir unglaublich leid, wieviel dabei auf der Strecke geblieben ist. Das war für mich das Schlimmste.

Ich habe aber zum Glück ein tolles Verhältnis zu meinem Sohn. Mein damaliger Mann zeigte für meine Beschwerden gar kein Verständnis. Ich fühlte mich immer wie die, die alle aufhält. Das wurde mir im Urlaub z. B. beim Wandern oder Fahrradfahren immer bewusster: Ich brauchte häufig Pausen, konnte beim Fahrradfahren nicht mehr ordentlich absteigen und verlor die Freude an solchen Aktivitäten. Das war eine schwere Zeit für mich, ich hatte ständig ein schlechtes Gewissen, wurde hochgradig depressiv. Mit dem Wissen um die Erkrankung kann ich nun gnädiger mit mir sein.
Was wäre in Ihrem Leben anders verlaufen, wenn Sie früher diagnostiziert und therapiert worden wären?
Ich hätte viel früher die Reißleine ziehen sollen. Ich bereue sehr, dass ich mich stets der Arbeit untergeordnet habe. Denn wenn die Krankheit früher erkannt worden wäre, hätte man früher mit der Behandlung starten und gewisse Schäden verhindern können: Körperlich und mental. Ich musste also lernen, Grenzen zu setzen und auf meinen Körper zu hören.
Seit meiner Diagnose muss ich mir die Physiotherapie nicht mehr erbetteln, das ist schon mal ein Fortschritt! Ich bin beim Rehasport, und zwar im Wasser: Das funktioniert für mich am besten. Anfang 2023 war ich das erste Mal in einer Spezialklinik für neuromuskuläre Erkrankungen und habe viel über meine Erkrankung gelernt. Dort habe ich auch verstehen müssen, dass ich nicht mehr die „Alte“ werde, da ich jahrelang über meine Grenzen gegangen bin. Die einmal verlorene Muskelkraft bekomme ich leider nicht mehr zurück. Leider ist ein geregelter Alltag so nicht mehr möglich, da meine Kräfte manchmal schon am Mittag ausgeschöpft sind.
Jeder Tag ist eine neue Herausforderung: Termine und Aktivitäten müssen gut geplant werden, da die Kraft oft nicht reicht. Deswegen bin ich auf Gehhilfen und einen Rollator angewiesen. Aber ich sehe nach vorn und versuche, der Verbitterung keinen Raum zu geben
Wie sieht Ihr Leben nun nach der richtigen Diagnosestellung und unter Therapie aus?
Ich taste mich langsam wieder an bestimmte Sachen heran: Ich versuche, mich mehr zu bewegen und gebe dem Fahrradfahren wieder eine Chance. Ich habe einen neuen Partner, der sehr verständnisvoll ist und sich großartig um mich kümmert: Eine tolle Erfahrung! Und eine Sache ist eine ganz große Erleichterung für mich: Seit ich medikamentös gut eingestellt bin, ist mein Reizdarmsyndrom weg! Vom ersten Tag an! Auch muskulär bemerke ich eine deutliche Verbesserung, ich kann mich morgens z. B. einfach strecken, kann leichter aufstehen. Dafür bin ich sehr dankbar.
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Welche Rolle spielt für Sie der Kontakt mit anderen Betroffenen, z. B. über die Patientenorganisation „Mensch und Myotonie e. V.“?
Ich wurde nach der Diagnose im Klinikum darauf hingewiesen, dass es Patientenvereinigungen gibt. Ich habe mich dann direkt bei „Mensch und Myotonie“ gemeldet. Das war eine riesige Hilfe für mich, um die Krankheit zu verstehen und zu sehen, dass ich nicht allein bin. Ich kann jedem nur empfehlen, das in Anspruch zu nehmen!
Weitere Informationen zur Patientenorganisation Mensch und Myotonie finden Sie unter: