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Anlaufstellen

Mythen, Mut und der Umgang mit dem Risiko: Leben mit Hämophilie

Fotos: Privat

Hämophilie ist eine seltene, genetisch bedingte Störung der Blutgerinnung, die über mehrere Generationen verborgen bleiben kann. Dies war in der Familie von Alexander Heise, Vorstandsmitglied der IGH e.V., der Fall: Erst eine anhaltende Blutung am Zahnfleisch des damals Eineinhalbjährigen führte zur Diagnose. Heute ist Alexander Mitte 20 und berichtet aus seinem Alltag mit Hämophilie A.

Alexander, wie äußert sich die Blutgerinnungsstörung bei dir im Alltag?

Mittlerweile nicht viel mehr, als dass ich mir regelmäßig die Prophylaxe selbst spritze – für mich ein großer Freiheitsgewinn – und Kontrolltermine wahrnehme. Ich muss auf meine Gelenke besonders achten, weil ich als Kind und Jugendlicher mehrere Gelenkblutungen hatte. Erst mit 12 wurde ich an ein Hämophilie-Zentrum angebunden, wo ich Zugang zur Prophylaxe erhielt, die mir im Alltag einen höheren Schutz vor Blutungen bietet. Trotzdem gibt es natürlich Situationen, wo ich vorsichtiger bin als andere. Zum Beispiel beim Fahrradfahren – da achte ich sehr auf den Verkehr, fahre vorausschauend, halte lieber einmal mehr an. Über die Jahre habe ich ein gutes Gespür für mich entwickelt.

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Ein Leben mit Hämophilie bringt besondere Herausforderungen mit sich – körperlich wie emotional. Für viele bedeutet Freiheit vor allem eines: den Alltag selbstbestimmt gestalten zu können – mit mehr Sicherheit, weniger Blutungen und mehr Lebensqualität.

Wo ziehst du persönlich deine Grenzen?

Ich finde es sehr schwer, immer genau zu wissen, was noch vernünftig ist – und was vielleicht schon zu riskant. Man will ja auch nicht ständig mit angezogener Handbremse leben. Mir zum Beispiel wurde früher oft empfohlen, Nordic Walking zu machen – aber das ist für Jugendliche wenig attraktiv, auch wenn Sport an sich richtig gut ist. Stattdessen habe ich das Turniertanzen für mich entdeckt. Als ich mit 16 einen Tanzkurs machte, hat mich das Tanzen nicht mehr losgelassen. Ich war regelmäßig auf Tanzpartys und irgendwann kam auch die Möglichkeit, mit meiner damaligen Tanzpartnerin in den Turniertanz einzusteigen. Das war eine richtig tolle Zeit.

Und wie hat sich das auf deine Gesundheit ausgewirkt?

Extrem positiv. Die Schmerzsituation hat sich massiv verbessert. Ich konnte plötzlich wieder lange Wanderungen machen – etwas, das ich mir vorher gar nicht vorstellen konnte. Das Tanzen hat mir eine ganz neue Welt eröffnet, für die ich sehr dankbar bin.

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Neue Behandlungsansätze auf Basis von ‚natürlichem‘ Faktor VIII ersetzen gezielt den bei Hämophilie fehlenden Gerinnungsfaktor und tragen so zu einer normalisierten Blutgerinnung bei. Eine Therapie mit hohen Faktor VIII Spiegeln kann helfen, sichtbare und nicht sichtbare Blutungen in den Gelenken und Muskeln zu vermeiden – und damit auch Ängsten oder Unsicherheiten im Alltag entgegenwirken.

Gibt es Sportarten, die du generell nicht empfehlen würdest?

Kampfsportarten wie Boxen oder Kickboxen sind für Menschen mit Hämophilie sicher eher kritisch zu sehen. Aber auch da gibt es Alternativen: Man kann z. B. Boxtraining ohne Kontakt machen – mit dem Sandsack. Generell finde ich, dass man vieles ausprobieren kann, wenn es gut vorbereitet ist und natürlich in Absprache mit den behandelnden Ärzten und Ärztinnen. Man könnte z. B. sagen: „Probier es mal einen Monat aus, lass uns das eng begleiten.“ Wenn es gut läuft, super! Wenn es häufig zu Blutungen kommt, ist es vielleicht doch nicht der richtige Sport.

Es gibt viele Mythen und Vorurteile zu Hämophilie. Welche haben dich besonders genervt oder tun es immer noch?

Ein Klassiker ist: „Wenn du dich mit einer Nadel stichst, blutest du sofort unendlich lange.“ Das stimmt so natürlich nicht. Viele glauben auch, dass mein Blut „dünner“ ist als bei anderen. Dabei fehlt bei mir einfach nur ein bestimmter Gerinnungsfaktor, und das wird erst dann ein Problem, wenn ich mich verletze. Das Blut selbst ist genauso „dick“ wie bei anderen Menschen. Was mich auch nervt: Dass viele automatisch denken, Hämophilie bedeutet, dass man total eingeschränkt leben muss. Klar, man muss vorsichtig sein – aber man kann mit der richtigen Therapie und Planung ein aktives Leben führen.

INFORMATION
Die verschiedenen Gerinnungsfaktoren – kurz auch Faktoren genannt – haben unterschiedliche Funktionen im Rahmen der Blutgerinnung. Durch ihr Zusammenspiel können Blutungen so schnell und dauerhaft gestillt werden. Wenn ein bestimmter Faktor fehlt oder nur unzureichend vorhanden ist, kommt es zu einem Gerinnungsfaktormangel. Daher spricht man bei Hämophilie A von einem Mangel an Faktor VIII, bei Hämophilie B von einem Mangel an Faktor IX.

Foto: Shutterstock, 1014163030

Und wie gehst du mit Ängsten um – etwa vor Verletzungen oder Operationen?

Die Angst ist definitiv ein Thema. Als ich 2021 meine Weisheitszähne rausbekam, wurde daraus zur Sicherheit ein mehrtägiger Klinikaufenthalt. Dass es zu längeren Blutungen kommen könnte, schwingt bei Eingriffen oder riskanten Situationen immer mit. Auch im Alltag merke ich, dass ich manches anders einschätze als andere – zum Beispiel, wenn meine Freunde irgendwo raufklettern. Da sage ich dann auch mal: „Nee, das ist mir zu heikel.“ Aber wenn ich es erkläre, verstehen sie es auch.

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Ob im Beruf, beim Sport oder auf Reisen: Menschen mit Hämophilie berichten, dass die passende Therapie ihnen dabei hilft, selbstbewusster zu leben und Herausforderungen besser zu meistern. Auf liberatelife.de finden Interessierte Informationen rund um moderne Hämophilie-Therapien sowie Artikel und Interviews zu Themen wie Gesundheit, Lebensqualität und Selbstbestimmung.

Was würdest du anderen Betroffenen gerne mit auf den Weg geben – besonders in Hinblick auf Sport?

Findet eine Sportart, die euch wirklich Spaß macht! Es muss nicht Schwimmen oder Radfahren sein, nur weil das als „sicher“ gilt. Die Sportwelt ist riesig – probiert euch aus. Und: Seid offen. Ihr müsst eure Geschichte nicht jedem auf die Nase binden, aber ein gutes Gespräch mit Menschen, die euch nahestehen, kann viel verändern. Wir wachsen mit der Erkrankung auf – wir kennen uns gut aus. Aber andere wissen das nicht automatisch. Da hilft es, Dinge klar zu benennen.



Die Interessengemeinschaft Hämophiler e. V. ist ein bundesweit tätiger Patientenverband, der die Interessen der an einer angeborenen Blutungskrankheit leidenden Menschen und ihrer Angehörigen vertritt.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.igh.info
Weitere Einblicke gibt es auf Instagram: @heise_alexander

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Liberate Life ist unser Verständnis, das Leben von Menschen mit Hämophilie zu verändern. Dein Leben ist einzigartig und mehr als Hämophilie. Mit unserem Engagement wollen wir neue Perspektiven eröffnen, Wissen vermitteln und deine Behandlung individuell verbessern.

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