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Neue Behandlungsansätze für das Bardet-Biedl-Syndrom: Im Fokus steht, die große Last der Erkrankung für Betroffene zu mindern 

Patienten mit dem Bardet-Biedl-Syndrom leiden aufgrund einer genetischen Mutation unter einem unkontrollierbaren Hungergefühl, das bereits im Kindesalter zu sehr starkem Übergewicht führt. Betroffene leiden darunter oft sehr und fühlen sich isoliert. FOTO: SHUTTERSTOCK_1347452750

Das Bardet-Biedl-Syndrom ist eine seltene genetisch bedingte Erkrankung und gehört zu den sogenannten Ziliopathien. Sie wirkt sich als Multisystemerkrankung auf den gesamten Körper Betroffener aus. Wir sprachen mit Dr. Metin Cetiner, der sich unter anderem auf die Behandlung dieser sehr belastenden Erkrankung spezialisiert hat.

Dr. med. Metin Cetiner

Oberarzt und Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kindernephrologe, Transplantationsmediziner, Pädiatrische Sonographie (Universitätsklinikum Essen)

Herr Dr. Cetiner, das Bardet-Biedl-Syndrom (BBS) ist eine seltene genetisch bedingte Erkrankung. Was macht die Diagnose für Mediziner so schwer?

Zunächst natürlich die Seltenheit. In unserem Register haben wir ca. 170 Betroffene in Deutschland, wobei die tatsächliche Zahl vermutlich etwa fünf- bis zehnmal so hoch ist. Zudem gibt es sechs Leitsymptome, die in verschiedenen Bereichen des Körpers und auch nicht gleichzeitig auftreten. Die Herausforderung ist daher, überhaupt erst einmal den richtigen Verdacht auf BBS zu haben.

Wie sehen diese Leitsymptome aus, und wie kann die Diagnose gestellt werden?

Überzählige Finger oder Zehen (Polydaktylie) sind eines der Symptome des BBS. Oft werden diese direkt nach der Geburt entfernt, ohne dass an diese Erkrankung als Ursache gedacht wird. FOTO: SHUTTERSTOCK_1407840644

Das erste Symptom ist die sog. Polydaktylie (Mehrfingrigkeit): Manche Betroffene haben bei Geburt einen ganzen Finger oder Zeh mehr, manche haben verkürzte oder zusammengewachsene Finger oder Zehen.

Hinzu kommen Nierenauffälligkeiten wie zu große bzw. zu kleine Nieren mit veränderter Binnenstruktur und teilweise Zysten.

Etwa ab dem 6. Lebensmonat zeigt sich zudem eine starke, fortschreitende Übergewichtigkeit, denn durch eine Genmutation funktioniert das Sättigungszentrum im Gehirn nicht, Betroffene kennen also das Gefühl „Ich bin satt“ nicht und entwickeln ein unkontrolliertes gesteigertes Essverhalten (sog. Hyperphagie).

Insgesamt zeigt sich bei den Kindern eine Entwicklungsverzögerung speziell beim Laufen- und Sprechenlernen. Zudem kommen betroffene Kinder mit Veränderungen nicht gut zurecht, sind stark routineliebend und haben eine niedrige Frustrationsgrenze.

Hinzu kommt der Hypogenitalismus, also eine Unterentwicklung der Geschlechtsorgane. Männliche Betroffene haben einen Mikropenis und die Hoden können in der Leiste verortet sein. Weibliche Betroffene können Veränderungen an der Vagina, den Schamlippen oder der Gebärmutter aufweisen, was aber häufiger übersehen wird, da ein Ultraschall vonnöten wäre, um diese Veränderungen zu entdecken.

Das Symptom, das am spätesten auftritt, aber am deutlichsten auf ein BBS hinweist, ist die Netzhautdegeneration: Betroffene verlieren zunehmend ihre Sehfähigkeit. Das zeigt sich schon im Vorschulalter durch Nachtblindheit (Angst und Orientierungsschwäche im Dunkeln) und Lichtempfindlichkeit. Deutlich zeigen sich die Beschwerden dann in der Pubertät (typischer Tunnelblick) und verschlechtern sich recht schnell, sodass Betroffene im Übergang zum Erwachsenenalter meist nur noch einen Visus von fünf bis zehn Prozent haben und somit per definitionem blind sind.

Die Diagnose an sich kann recht unkompliziert durch einen Gentest gestellt werden. Durch die Bandbreite der Symptome gibt es aber große Unterschiede, wann die Diagnose erfolgt. Wird das BBS nicht im Kindes- oder Jugendalter diagnostiziert, dann ist die Gefahr sehr hoch, dass die Betroffenen erst sehr spät oder nie diagnostiziert werden.

Wie sehen die Behandlungsmöglichkeiten derzeit aus und können die verfügbaren Therapien die Lebensqualität Betroffener verbessern?

Bisher gibt es keine Therapie gegen das gesamte Symptomspektrum des BBS, aber es wird intensiv an einer möglichen Gentherapie geforscht. Bezüglich der Netzhautdegeneration kann man nur begleitende Maßnahmen in die Wege leiten, aufhalten kann man den Sehverlust bisher leider nicht.

Auch die starke Übergewichtigkeit bedeutet eine enorme Last für die Betroffenen und ihre Familien. Eltern versuchen, das unter Kontrolle zu halten, sperren das Essen weg und schließen teils sogar den Kühlschrank ab, das Thema (zu viel) Essen ist allgegenwärtig. Betroffene Kinder ziehen sich zurück und leiden sehr stark unter ihrem Anderssein. Denn wir sprechen von schwerstem Übergewicht, das die Kinder und jungen Erwachsenen besonders in Kombination mit den anderen Symptomen vom normalen Leben ausschließt.

Hier wurde kürzlich ein neues Medikament zugelassen, das die erste und einzige kausale Therapie gegen den spezifischen Gendefekt darstellt, der das Sättigungszentrum außer Kraft setzt. Dieses Medikament kompensiert den Gendefekt durch einen MC4R-Rezeptor-Agonisten, der das Sättigungszentrum wieder aktiviert, wodurch es laut aktueller Studienlage bei vielen Patientinnen und Patienten zu einem deutlich reduzierten Hungergefühl und infolgedessen zu einer starken Gewichtsreduktion kommt. Auf dieses Medikament setzen viele Betroffene sehr viel Hoffnung.

Die größte Unterstützung können sich Betroffene und deren Angehörige gegenseitig geben

Betroffene und deren Familien/Angehörige erleben durch die Erkrankung eine starke Belastungssituation, die die Lebensqualität stark einschränken kann. Wo erfahren Betroffene Unterstützung?

Die größte Unterstützung können sich Betroffene und deren Angehörige gegenseitig geben. In der Patientenvereinigung PRO RETINA e. V. gibt es einen Arbeitskreis zum Bardet-Biedl-Syndrom, in dem Betroffene und Eltern betroffener Kinder erfahren: Wir sind nicht allein! Vom 12. bis 14. Mai 2023 wird es in Bonn ein Patientenseminar der PRO RETINA geben, das eine tolle Möglichkeit der Vernetzung darstellt.

Sie sind Ansprechpartner für das NEOCYST-Forschungsprogramm, das sich unter anderem auf die Erforschung des BBS fokussiert. Welche Vorteile hat ein Patient, der sich an diesem Programm beteiligt?

Wir vernetzen die behandelnden Ärzte und die Grundlagenforscher mit der BBS-Community, um die Erkrankung besser zu verstehen und im Idealfall neue Behandlungsansätze entwickeln zu können, die den Betroffenen zugutekommen. Dieser transparente Austausch schafft eine Win-Win-Win-Situation und erhöht die Motivation auf allen Seiten! Zudem ist das BBS in vielerlei Hinsicht eine Modellerkrankung, denn die Forschung an dieser Erkrankung hat uns schon viele Erkenntnisse beschert, die auch auf andere Erkrankungen anwendbar sind. Teilnehmende Betroffene werden also aktiver Teil der Forschergemeinschaft!

Weiterführende Informationen

Weitere Informationen zum NEOCYST-Forschungsprogramm finden Sie unter www.neocyst.de

Weitere Informationen zum Patientenseminar des Arbeitskreises Bardet-Biedl-Syndrom finden Sie im Veranstaltungskalender der PRO RETINA e.V. unter www.pro-retina.de

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