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Nicht-dystrophe Myotonien: Wenn plötzlich alles stillsteht

Wenn beim Treppen steigen die Muskulatur blockiert, können für NDM-Betroffene gefährliche Situationen entstehen. (Foto: 9nong via Shutterstock)

Nicht-dystrophe Myotonien (NDM) sind eine Gruppe seltener erblicher Erkrankungen. Das Hauptsymptom: Betroffene sind aufgrund der Krankheit nicht fähig, die der körperlichen Bewegung dienenden Muskeln (Skelettmuskulatur) nach der Kontraktion sofort wieder zu entspannen. Dies führt zu einer Blockade der Muskulatur, welche die Mobilität und Lebensqualität der Betroffenen negativ beeinflusst. Ein Gespräch mit dem Experten Prof. Dr. med. Benedikt Schoser.

Prof. Dr. med. Benedikt Schoser

Oberarzt Friedrich-Baur-Institut an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des LMU Klinikums München

Wie äußern sich NDM, wie wirken sie sich auf den Alltag Betroffener aus und was sind die Gefahren für Betroffene?

Zunächst ist vielen Ärzten, aber auch den Betroffenen unklar, was mit dem Patienten bzw. ihnen nicht stimmt. Sie haben gegebenenfalls eine recht gute Muskelkraft, sehen muskulös-sportlich aus, aber können weder schnell loslaufen, zum Beispiel an einer Ampel, im Sport oder beim Treppensteigen, noch schnell die Faust öffnen, Finger schnell bewegen und verkrampfen sich beim Schreiben oder Schneiden. Viele Betroffene erleben das bereits in früher Kindheit und werden damit erwachsen. Sie waren nie so richtig gut im Schulsport und anderen sportlichen Aktivitäten, ein Musikinstrument spielen war schwierig, und bei manch einem war das Schlucken, die Lidöffnung oder das Kauen „verkrampft“. Immer wieder gab es aber auch Phasen, in denen die bereits genannten Symptome weniger oder auch mal kurzfristig gar nicht vorhanden waren. Oft wissen die Betroffenen selbst ja erst nach Start einer antimyotonen Therapie, wie sich ein Leben mit weniger oder gegebenenfalls ohne Myotonie wirklich anfühlt und zu welchen körperlichen Leistungen sie dann ohne Probleme in der Lage sind.

Bei seltenen Erkrankungen ist die Zeit bis zur Diagnose oft lang, da sie selbst für erfahrene Mediziner nicht leicht zu erkennen sind. Wie lange dauert es im Schnitt, bis NDM-Patienten diagnostiziert werden?

Bis vor wenigen Jahren waren es in der Regel drei bis zehn Jahre, bis die Diagnose gesichert war. Heute sind es immer noch zwei bis drei Jahre im Durchschnitt. Die einzige Möglichkeit, diese immer noch sehr lange Zeit zu verkürzen, ist die kontinuierliche Weiter- und Fortbildung. Denn um eine Diagnose stellen zu können, muss man die Symptome kennen und zuordnen können, um dann eine genetische Diagnostik einzuleiten.

Was sind die Herausforderungen bei der Diagnosestellung?

Die Myotonie stellt eine Dekontraktionshemmung der Skelettmuskulatur dar. Dieses Nicht-loslassen-Können nach einer dynamischen oder statischen Muskelanspannung wird oft weder von Ärzten noch dem Patienten selbst verstanden und adäquat als ein spezifisches Krankheitssymptom wahrgenommen und eingeordnet. Oft berichten Patienten nur von einem Muskelschmerz oder einem Verkrampfungsgefühl der Muskulatur nach Belastung. Erst ein Neurologe oder Neuropädiater wird in der Regel die Zuordnung der Symptome zu einem myotonen Syndrom leisten. Gegebenenfalls kann dann die Nadeluntersuchung der Muskulatur (Elektromyografie, EMG) bereits eine Diagnosesicherung liefern. Die endgültige Diagnosesicherung erfolgt heute über eine Genanalyse aus dem Blut.  

Wie sehen die derzeitigen Therapieoptionen aus, und können Betroffene unter Therapie ein weitestgehend normales Leben führen?

Wir haben heute unterschiedliche antimyoton wirksame Medikamente, die erfolgreich in der Behandlung einer Myotonie eingesetzt werden können. Durch diese Medikamente wird der Spannungszustand der Muskulatur herabgesetzt und es kommt zu einer Verbesserung der Dekontraktion nach Muskelanspannung, sodass eine gebesserte dynamische Kraftentwicklung und Leistungsfähigkeit erzielt werden kann. Nicht allen, aber sehr vielen Betroffenen hilft die täglich wiederholte Einnahme dieser Medikamente, um eine deutlich verbesserte Lebensqualität zu erreichen. 

Was wünschen Sie sich bezüglich der Versorgung von Menschen mit NDM?

Das müssen Sie in erster Linie die Betroffenen selbst fragen. Ich wünsche mir, dass alle Betroffenen diagnostiziert werden, langfristig adäquat fachärztlich versorgt werden und ihnen eine medikamentöse Therapie angeboten wird. Die zusätzlichen Angebote der Selbsthilfeorganisationen wie „Mensch und Myotonie e. V.“ und der „Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e. V.“ sind hier sehr wichtig und sollten allen Betroffenen bekannt sein.

Haben Sie die Hoffnung, dass es irgendwann eine ursächliche Therapie geben wird, die die Erkrankungen heilbar macht?

Es sind alles sehr seltene erbliche Erkrankungen, die zumindest schon eine ganz gut funktionierende symptomatische Therapie haben, das haben wir in dieser Form für viele andere Muskelerkrankungen nicht. Wünschenswert wäre natürlich auch hier eine spezifische Gentherapie, wenn wir die nötige Sicherheit dann einmal für diese Therapiemethode haben.

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