Home » Krankheitsbilder » Nicolaides Baraitser Syndrom (NCBRS) – „Durch Luise haben wir viel gelernt“
Krankheitsbilder

Nicolaides Baraitser Syndrom (NCBRS) – „Durch Luise haben wir viel gelernt“

Fotos: Privat

NCBRS ist ein sehr seltener Gendefekt auf dem 9. Chromosom. Weltweit gibt es nur schätzungsweise 200 Betroffene, davon ungefähr 12 in Deutschland. Kennzeichnend für die Erkrankung sind unter anderem eine deutliche geistige Entwicklungsverzögerung, Epilepsie, Kleinwuchs und Untergewicht. Luise ist fünf Jahre alt und eine der wenigen diagnostizierten Patienten in Deutschland. Mit ihrer Mutter Kerstin Gebhardt sprachen wir über das Leben mit einer seltenen Erkrankung, für die es noch keine medikamentöse Therapie gibt.

Frau Gebhardt, Ihre Tochter Luise wurde mit einer sehr seltenen Erkrankung geboren, dem Nicolaides Baraitser Syndrom (NCBRS). Wann haben Sie erstmals bemerkt, dass etwas nicht stimmt?

Luise wurde im Mai 2015 geboren und 3 Monate später haben wir mit ihr einen Babyschwimmkurs begonnen. Schon in der ersten Stunde fiel uns auf, dass Luise viel kleiner und dünner als die anderen Babys war und sie nicht in der Lage war, ihren Kopf zu heben. Außerdem hatte sie sehr weniges und dünnes Haar. Als sie 5 Monate alt war, musste ich plötzlich abstillen, da ihr das Saugen an der Brust sehr schwerfiel und sie an der Grenze zum Untergewicht war. Des Weiteren wurden leichte Herzgeräusche festgestellt, die zum Glück bis heute ohne Krankheitswert sind.

Wie ging es dann weiter, wie und wann wurde die Diagnose denn gestellt?

Es war ein langer schleichender Prozess. In den ersten Lebensjahren bemerkten wir, dass Luise, im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern, in ihrer Entwicklung immer zurück war. Sie lernte erst mit 22 Monaten laufen, die ersten Wörter sprach sie mit 2 Jahren. Wir wurden von allen Seiten beruhigt, dass sie einfach nur entwicklungsverzögert sei. Natürlich wollten wir das selbst auch glauben. Aber irgendwann mussten wir uns eingestehen, dass sich die Auffälligkeiten immer mehr häuften. 2018 äußerte der Kardiologe die Verdachtsdiagnose Williams Beuren Syndrom und daraufhin veranlassten wir in Mainz einen Gentest. Im März 2019, 8 Monate später, erhielten wir die richtige Diagnose.


Was bedeutet die Erkrankung für Luise, aber auch für Sie als Familie?

Luise ist ein fröhliches Mädchen, sie liebt Elsa die Eiskönigin und singt und tanzt sehr gerne. Zurzeit ist sie absolut Pferdevernarrt. In dieser Hinsicht ist sie also eine ganz normale Fünfjährige. Zu unserem Alltag gehören aber regelmäßige Termine bei vielen Fachärzten und im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), Therapien und regelmäßiges Üben. Denn jeder Entwicklungsschritt kommt nicht von allein, sondern muss unterstützt und gefördert werden.

Im Alltag brauchen wir viel Geduld, Zeit und Struktur. Die einfachsten Dinge im alltäglichen Ablauf müssen begleitet und unterstützt werden. Dabei bekommen wir viele Tipps und Anregungen von der Frühförderung. Zum Beispiel wird der Ablauf vom Toilettenvorgang und Anziehprozess durch Bilder unterstützt. Luise ist oft verträumt und unkonzentriert. Sie braucht länger, Geschehnisse und Erfragtes zu verarbeiten. Deswegen stellt sie sehr oft dieselbe Frage 5-mal hintereinander. Sie ist aber ein interessiertes und aufmerksames Mädchen und liebt Bücher.

In Spielsituationen mit ihrem Bruder bemerkt sie ihre eigenen Grenzen und weiß nicht mehr weiter und kann dies aber nicht verbal äußern. Dann wird sie aggressiv und verletzt sich und andere.

Gegenstände werden noch oral erforscht, was für Kinder ihres Alters eigentlich nicht mehr zutrifft. Beim Spaziergang und im Straßenverkehr erkennt sie keine Gefahren, spricht jeden Fremden an und läuft oft weg, ohne sich umzudrehen.

Mein Mann und ich machen uns besonders große Sorgen und Gedanken bezüglich der ungewissen Zukunft. Luise hat zwar eine milde Form des Syndroms, jedoch wird sie höchstwahrscheinlich immer auf Hilfe angewiesen sein.

Durch Luise haben mein Mann und ich sehr viel gelernt. Für uns ist nichts mehr selbstverständlich. Über jedes neu Gelernte freuen wir uns riesig. Ihr 2 Jahre jüngerer Bruder hilft und ermutigt sie oft, wie zum Beispiel beim Rutschen. Durch ihn ist Luise mit 5 Jahren zum ersten Mal allein gerutscht. Vor Freude musste ich weinen und war überglücklich.

Wo bekommen speziell Sie als Eltern eines Kindes mit einem sehr seltenen Gendefekt Hilfe und Unterstützung?

Die Kinderärztin von Luise hat einiges ins Rollen gebracht. Wir sind im SPZ und in der Frühförderung angebunden. Im SPZ finden Arzttermine und Untersuchungen statt und in der Frühförderung gehen mein Mann und ich zur Beratung. Genaue Informationen zu dem Syndrom haben wir uns auf der NCBRS-Homepage geholt.

Allerdings fühlten wir uns mit dieser seltenen Diagnose sehr verloren und allein gelassen. Unsere Ärzte und Humangenetikerin kannten das Syndrom nicht und im Internet fanden wir gerade mal einen deutschsprachigen Infozettel dazu. Wir hatten sehr viele Fragen im Kopf und wussten nicht so richtig wohin damit.

Dann entdeckten wir bei Facebook eine Gruppe für Eltern mit Kindern mit NCBRS. So trafen wir Gleichgesinnte aus der ganzen Welt. Ein paar Tage später schrieb mir eine Mama aus Deutschland und wir standen über Wochen täglich in Kontakt und tauschten uns aus, lachten und weinten zusammen. Diese Gespräche stärkten und unterstützen uns gegenseitig und gaben mir sehr viel Halt und Mut. Ich fühlte mich endlich verstanden und nicht mehr alleine.

Ich gründete eine deutschsprachige WhatsApp Gruppe und inzwischen sind wir 11 Familien. Letztes Jahr hatten wir unser erstes Treffen in Gießen und es hat so gutgetan, zu wissen, dass wir nicht allein sind. Wir sind alle zu einer zweiten kleinen Familie zusammengewachsen und das ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl.

Was wünschen Sie sich für Luise, aber auch für andere Betroffene an Veränderungen?

Luise wird in der Familie und bei Freunden so angenommen wie sie ist. Und das sollte in jedem Bereich unserer Gesellschaft so sein.

Wir wünschen uns, dass das Syndrom weltweit bekannter wird und dadurch mehr erforscht werden kann. Mehr Erkenntnisse über das Syndrom würden uns und zukünftigen Betroffenen helfen, es besser zu verstehen und unseren Kindern rechtzeitig Unterstützung und Hilfe zu bieten.

Unsere ehemalige Kinderärztin hat bereits mit 5 Monaten bei Luise ein Syndrom vermutet, uns das aber erst 1,5 Jahre später mitgeteilt. Wir wünschen uns, dass solche Vermutungen im ärztlichen und privaten Umfeld zeitig und direkt geäußert werden.

Sie möchten mehr erfahren?

Weitere Informationen in Englischer Sprache sind auf der Website der NCBRS Worldwide Foundation zu finden.

Nächster Artikel