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Spinale Muskelatrophie: Wenn die Muskeln versagen

Foto: Africa Studio via Shutterstock

Die spinale Muskelatrophie, kurz SMA, ist eine sehr seltene Erkrankung, die meist schon Kinder betrifft. Die gute Nachricht ist: Seit drei Jahren gibt es eine Therapieoption. Wie die Erkrankung erkannt werden kann und wo Therapien ansetzen, erklärt Dr. Tim Hagenacker im Interview.

Priv.-Doz. Dr. med. Tim Hagenacker

Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine seltene Erkrankung bestimmter Zellen im Rückenmark. Was sind erste Warnsignale und wie wird die Erkrankung diagnostiziert?

Die Erkrankung fällt meist dem Kinderarzt oder Kinderneurologen auf, da die SMA hauptsächlich bei Kindern auftritt. Die kleinen Patienten zeigen meist früh nach der Geburt oder während der frühen motorischen Entwicklung Lähmungserscheinungen. Sie können sich nicht richtig bewegen, den Kopf nicht heben. Bei schwersten Verlaufsformen können die betroffenen Kinder schon nach der Geburt nicht richtig schlucken oder nicht ausreichend atmen. 

Es gibt auch Formen der SMA, die sich erst im Jugendalter und selten im frühen Erwachsenenalter manifestieren. Dann sind es vornehmlich Lähmungserscheinungen im Bereich der Oberschenkel und der Schultergürtelmuskulatur. Patienten bemerken dann, dass sie Schwierigkeiten beim Treppensteigen haben oder nicht lange über Kopf arbeiten können. 

Die SMA ist eine Multi-System-Erkrankung. Was bedeutet das genau und auf welche Bereiche des Körpers kann sich die Erkrankung auswirken?

Grundsätzlich betrifft der Gendefekt, der der Erkrankung zugrunde liegt, alle Zellen im Körper. Es sind aber hauptsächlich die Nervenzellen erkrankt, die für die Bewegung der Muskulatur zuständig sind. Daraus ergeben sich auch die weiteren Organsysteme, auf die man besonders achten muss: Es kommt zu einer Schwächung der Atemmuskulatur, sodass der Brustkorb sich nicht ausreichend bewegen kann und die Atmung schwerfällt. Es kommt zu einer deutlichen Verdrehung der Wirbelsäule: Verkrümmungen oder Deformitäten in diesem Bereich, die auch zunehmend das Atmen betreffen. Auch der Schluckakt ist deutlich eingeschränkt, der ja auch ein Akt der muskulären Bewegung ist. Das macht die Ernährung schwierig, man kann sich häufig verschlucken oder es gelangt Speisebrei in die Lunge, was wiederum zu Lungenentzündungen führen kann. Zudem wissen wir aus groß angelegten Untersuchungen, dass seltener auch andere Organsysteme betroffen sein können. Bei schwerst betroffenen Kindern kann es zu Fehlbildungen des Herzens kommen, selten zeigen sich Auffälligkeiten im Bereich der Bauchspeicheldrüse.

Je früher die Therapie einsetzt und je besser der Funktionszustand der Patienten ist, umso effizienter ist eine Therapie.

Wie kann man die SMA derzeit behandeln? Können die Symptome durch die Behandlungsoptionen gestoppt werden?

Vor drei Jahren war noch keinerlei medikamentöse Therapie verfügbar. Durch das genetische Wissen um die Ursache der Krankheit wurde aber die Grundlage zur Therapieentwicklung geschaffen. Die hat die Entwicklung der heutigen Therapieoptionen möglich gemacht. Einige sind bereits zugelassen, andere sind noch im Zulassungsprozess befindlich. In Europa ist derzeit ein Präparat zugelassen, in den USA wird bereits die Genersatztherapie angewandt. Allen Therapien ist gemeinsam, dass sie das Problem der Erkrankung sehr nah an der Wurzel packen. 

Bei allen Präparaten gilt: Je früher die Therapie einsetzt und je besser der Funktionszustand der Patienten ist, umso effizienter ist eine Therapie. Gerade bei kleinen Kindern ist es so, dass sich das Nervensystem noch entwickelt. Wenn also so früh wie möglich therapiert wird, kann das Absterben der Nervenzellen verhindert werden, sodass sich das Bewegungssystem so normal wie möglich entwickeln kann. Bei Patienten, die schon erhebliche Beeinträchtigungen in der Bewegung aufweisen, ist das Ziel der Therapie, die Erkrankung im Verlauf zu stoppen oder auch Funktionen wiederzugewinnen. Eine Heilung bringt aber keine dieser Therapiemöglichkeiten.

Was ist in Bezug auf die Aufklärung von Ärzten zu tun, um Diagnosewege zu verkürzen?

Das Wichtigste ist immer das Wissen um die Erkrankung. Wenn man eine gewisse Erkrankung und ihre Warnsignale kennt, ist das bereits der entscheidende Schritt. Dann kann man an den entsprechenden Spezialisten verweisen, der dann zur Diagnosestellung voranschreitet. 

Derzeit gibt es über eine Initiative von Kinderärzten und Kinderneurologen Bestrebungen, die SMA in das Neugeborenenscreening aufzunehmen. Denn dann erwischt man die Patienten zum therapeutisch bestmöglichen Zeitpunkt, bevor die ersten Anzeichen der Krankheit wahrnehmbar sind. 

Wenn Sie einen optimistischen Blick in die Zukunft werfen: Ist Ihrer Meinung nach eine ursächliche Therapie in Reichweite?

Ich denke, dass wir jetzt beginnen können, über eine ursächliche Therapie nachzudenken. Da 90 bis 95 Prozent der Patienten den gleichen Gendefekt aufweisen, ist es möglich, einen Ansatzpunkt für Medikamente zu entwickeln, der bei diesen Patienten gleich ist. Das ist nicht bei allen genetischen Erkrankungen so. Mit den jetzt aufkommenden Therapien sind wir schon sehr nah dran an der Ursache, und wenn man diese Entwicklungen mit allen Herausforderungen weiterdenkt, dann ist eine ursächliche Entfernung des Gendefektes denkbar, auch wenn das momentan noch Zukunftsmusik ist.

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