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Undefinierte Muskelkrämpfe

Wenn das Leben auf Pause drückt

Foto: Madrolly via Shutterstock

Für Patienten mit nicht-dystrophen Myotonien (NDM) kann plötzlich alles stillstehen. Denn die Betroffenen sind aufgrund einer Erberkrankung nicht fähig, bestimmte Muskeln nach der Kontraktion wieder zu entspannen.

Stephanie M. ist auf dem Weg zur Arbeit, es herrscht die übliche Rushhour. Nur ist sie heute ein wenig zu spät losgegangen. Sie hat die Bushaltestelle noch nicht ganz erreicht, als der Bus an ihr vorbeifährt. Sie rennt los, um ihn noch zu erreichen. Doch mitten in der Bewegung fällt sie der Länge nach hin, ihre Beine haben ihr den Dienst versagt. Wütend über sich selbst steht sie schwerfällig wieder auf. So etwas ist ihr nicht zum ersten Mal passiert. Beim letzten Mal hatte sie sich doch fest vorgenommen, dem Bus nicht noch einmal hinterherzurennen!

Stephanies Beispiel ist nur eines von vielen, die Menschen, die an einer ganz bestimmten seltenen neurologischen Erbkrankheit leiden, im Alltag passieren können. Bei ihr sollte es noch Jahre dauern, bis sie durch einen Neurologen erfährt, dass ihre Stürze ein Symptom ihrer seltenen Erkrankung namens Myotonia congenita Becker sind, die zur Gruppe der nicht-dystrophen Myotonien (NDM) gehört.  

Nicht-dystrophe Myotonien

Unter einer Myotonie versteht man die Unfähigkeit, einen Muskel nach erfolgter Kontraktion zu entspannen, was häufig von Betroffenen als Muskelsteifigkeit beschrieben wird. Zurückzuführen ist die Myotonie bei der Gruppe der NDM auf unterschiedliche genetisch bedingte Veränderungen in den sogenannten Natrium- oder Chloridionenkanälen der Muskeln. Diese beeinträchtigen die Signalweiterleitung von Nerven auf die Muskeln. Die Muskeln reagieren nicht auf Befehle vom Gehirn. Sie spannen sich länger als bei gesunden Menschen an, sind versteift und können keine neuen Befehle für eine Muskelkontraktion empfangen. In der Folge kann es zudem zu Schmerzen aufgrund der krampfartigen Verspannungen kommen. 

Symptome der NDM – Gefahren im Alltag

So wie bei Stephanie M. zeigen sich die Probleme im Alltag. Ähnlich wie bei ihr kann es zu sehr unangenehmen und sogar lebensgefährlichen Situationen kommen. Man stelle sich nur vor, dass ein Betroffener beim Gerangel im Freibad unvermittelt ins kalte Wasser fällt. Die Kälte verstärkt seine Myotonie, die Muskeln verkrampfen und er kann keine Schwimmbewegungen machen. Er weiß, wie sein Körper reagiert und dass er zu ertrinken droht. Dieser Stress verstärkt die Myotonie zusätzlich – er ist bewegungsunfähig und geht unter. Genauso können Verzögerungen beim Öffnen der Augen nach dem Niesen oder eine einfache kleine Unebenheit auf dem Gehweg zu brenzligen Situationen führen.

Auch das Sprechen oder Schlucken kann beeinträchtigt sein, sofern die Muskulatur des Gesichts betroffen ist. Zudem berichten viele NDM-Patienten auch von Muskelschwäche. Einige sehen trainiert aus wie Bodybuilder, können jedoch eine Kiste Bier nicht hochheben. 

Weitere typische Symptome der NDM sind Muskelschmerzen und/oder Abgeschlagenheit. Verständlicherweise ist die Lebensqualität dadurch erheblich eingeschränkt. Die ersten Symptome treten oft bereits in der Kindheit oder Jugend auf. Die Betroffenen empfinden ihre Symptome zudem im Laufe der Zeit als zunehmend gravierend. Die Beeinträchtigungen können so weit gehen, dass die Ausübung des Berufes nicht mehr möglich ist.

Langjährige Ärzte-Odyssee

Aufgrund der Seltenheit der nicht-dystrophen Myotonien haben auch Ärzte oft Schwierigkeiten, die Symptome richtig zuzuordnen. Daher kann es teilweise bis zu zehn Jahre dauern, bis meist ein Neurologe die richtige Diagnose stellt. Häufig haben Patienten vorher eine zermürbende Ärzte-Odyssee und etliche Fehldiagnosen hinter sich. Bei der Diagnosefindung ist es wichtig, dem Arzt alle Symptome zu schildern – auch die unwichtig erscheinenden. Nur eine vollständige Abklärung der Vorgeschichte im Zusammenspiel mit klinischen Tests und der entsprechenden genetischen Untersuchung kann zur richtigen Diagnose führen.

Was Betroffene tun können

Es gibt die Möglichkeit die Symptome zu behandeln, auch wenn die Erkrankungen nicht heilbar sind. Sie wird meist von einem Neurologen verordnet, der sich im Idealfall sehr gut auf diesem Gebiet auskennt. Ergänzend zur medikamentösen Therapie kann eine achtsame Ernährung die Symptome der Myotonie etwas abmildern. Lebensmittel mit einem hohen Kaliumgehalt (z. B. Bananen, Bohnen, Cola etc.) führen beispielsweise bei den kaliumsensitiven Myotonien zu einer Verstärkung der Myotonie und sollten daher vermieden werden. Begleitend kann eine physiotherapeutische Behandlung zur kurzzeitigen Entspannung der Muskulatur beitragen. 

Auf jeden Fall kann es Betroffenen sehr helfen, sich mit anderen NDM-Patienten auszutauschen, um zu erfahren, wie diese mit ihren Beschwerden umgehen und welche Tipps und Tricks es für den Alltag gibt.

Die gemeinnützige Patientenorganisation „Mensch & Myotonie e. V.“ unterstützt NDM-Betroffene bei allen Fragen rund um die Myotonie.  Die Organisation bietet u. a.:

– Erfahrungsaustausch
– Persönliche Mitgliedertreffen
– Klinikempfehlungen und Informationen zu Medikamenten von Vereinsmitgliedern
– Zusammenarbeit mit renommierten Neurologen

Die Patientenorganisation wird zu 100 Prozent ehrenamtlich geführt und erhebt deshalb keinerlei Beiträge oder Gebühren für die Mitglieder. Weitere Informationen finden Sie unter menschundmyotonie.de

Die vier Unterarten der NDM

1. Myotonia congenita Becker
2. Myotonia congenita Thomsen
3. Paramyotonia congenita Eulenburg
4. Kaliumsensitive Myotonien, unterteilt in:
–   Myotonia fluctuans
–   Acetazolamid-empfindliche Myotonie
–   Myotonia permanens

Achten Sie auf die folgenden Symptome

– Muskelsteifigkeit (typisch: geballte Faust kann nicht schnell geöffnet werden)
– Muskelschmerzen
– Muskelschwäche
– Abgeschlagenheit
– Beeinträchtigungen beim Sprechen und Schlucken
Symptome müssen nicht zwingend zusammen auftreten!

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